Rainer Gross „Contact Paintings – Twins“
Bei den von Rainer Gross als „Twins“ bezeichneten Gemälden handelt es sich um Diptychen, also um zweiteilige Werke, die in dem horizontalen Nebeneinander der beiden gleichgroßen Leinwände ein Gesamtbild ergeben.
Auf den ersten Blick sind wir konfrontiert mit einem intensiven Kolorit, einer enormen Präsenz des flächig organisierten, kräftigen Farbauftrags in Überlagerungen. Die fleckige Verteilung verschiedener Farben suggeriert den Eindruck organischer Wucherungen etwa bunter Flechten, von Verwitterungsprozessen der Erd-, oder anderer Oberflächen. Das gilt auch für die bisweilen auf unregelmäßigen Farbbahnen basierenden Bilder.
Trotz dieser ersten Assoziationen bilden die Werke Nichts ab. Die Farbe und ihre Erscheinungsform bestimmen die Arbeiten, damit sind sie unzweifelhaft der nicht-gegenständlichen Farbmalerei zuzuordnen. Aber handelt es sich überhaupt um Malerei im klassischen Sinne? Nein und Ja!
Mit „Contact Paintings“ überschreibt Rainer Gross sein einzigartiges Verfahren, bei dem sowohl die klassischen Künstlerölfarben, als auch eine große Menge zunächst trockener, tatsächlich pulverförmiger Farbpigmente zum Einsatz kommen. Besonders interessant ist dabei, dass diese Pigmente erst nach ihrem Auftrag auf die Leinwand zur Farbmaterie gebunden werden. Das geschieht durch den Einsatz verschiedener Flüssigkeiten, mit denen sie benetzt werden, sowie durch Druck, nämlich das Pressen der beiden Bildseiten gegeneinander („Contact“). Dieses Abdrücken erfolgt von Hand und wird dabei ebenso gesteuert wie zuvor eine Komposition der Farben, ihrer Anordnung und Schichtungen im Auftrag des pulverförmigen Pigments.
Zu den Entscheidungen des Künstlers gehört auch die Bestimmung der Zeitspanne, in der die beiden Seiten aufeinander lagern. Den gewissermaßen alchimistischen Prozess, wie lange die Flüssigkeiten die Pigmente durchdringen können und inwieweit die Überlagerungen bereits antrocknen dürfen, definiert er sehr präzise.
Schließlich trennt Rainer Gross die beiden Werkstücke voneinander und hier manifestiert sich in der Bildentstehung eine Art kalkulierter Zufall, denn an welchen Pigment- bzw. Farbebenen sich die Oberflächen lösen, ist, abgesehen von Erfahrungswerten, nur bedingt vorhersehbar. Dieses letzte Überraschungsmoment sucht und genießt der Künstler, für den hier – wie in der Natur - eine Eigendynamik die menschliche Steuerung übertrifft.
Betrachten wir diese Bilder genauer, lassen sich sensible, filigrane Partien, subtile Farbkompositionen bzw. -durchbrüche, aber auch kraftvolle, vehemente, kontrastreiche Heftigkeiten entdecken, die wie Verletzungen wirken.
Deutlich sichtbar sind pastose Farbanteile ebenso wie körnige Pigmente, teils eben, teils gratig, nahezu plastisch ausgebildet. Im visuellen Abgleich der beiden Teile der Diptychen erkennt man die Verwandtschaft aus dem Abdruckverfahren. Farbschollen, die einer Seite quasi additiv anhaften, stellen auf der anderen Seite Vertiefungen dar, die meist in untere, andersfarbige Sedimente blicken lassen. Dieser Faktor ist wechselseitig feststellbar. Die beiden Tafeln der „Twins“ sind ähnlich, nicht aber identisch; um im Sprachbild zu bleiben sind sie zweieiige Geschwister, nicht eineiige. Zudem definiert Rainer Gross ihre Anordnung so, dass eine Bildhälfte meist um 180 Grad gedreht angebracht wird. – Er provoziert unser Nachdenken um die Beziehung der beiden Teile zueinander, denn eine Abhängigkeit ist evident, aber eben nicht direkt offensichtlich zu entschlüsseln. Nicht eine Seite ist Druckstock, nicht eine Seite ist Druckergebnis. Beide Seiten sind beides, sie haben sich im wahrsten Sinne unter der Hand des Künstlers gegenseitig geschaffen.
Erst wenn wir den Schlüssel haben, wird uns klar, dass bzgl. der Bildwirkung ihre Genese, die Entstehung der Bilder, und ihre Destruktion, die „Verletzungen“ der Farboberfläche, gleichzeitig sind. Wie bei allen Kreaturen und Dingen wohnt dem Werden auch das Vergehen inne. So gesehen schafft Rainer Gross mit seiner Malerei ein Memento mori der Farbe. Natürlich sind das keine Verletzungen im wörtlichen Sinne, die Farbaufwürfe sind ästhetisch zu lesen wie die Öffnungen der Bildoberfläche in den Werken von Lucio Fontana, oder die Spuren in den Kunstwerken aus Plakatabrissen etwa von Raymond Hains, Positionen mit denen Rainer Gross in der avantgardistischen Kunstszene der 1960er Jahre in Köln sozialisiert wurde, ebenso wie er konfrontiert war etwa mit der kontrastreichen Farbmalerei eines Clifford Still und anderer Vertreter des amerikanischen Expressionismus nicht erst seit Gross sich 1972 mit seinem Hauptwohnsitz in New York niederließ. Auch dieses kunsthistorische Verweissystem – bis hin zur Dynamik tachistischer Setzungen - ruft Rainer Gross in seinen Werken assoziativ auf.
Die Kölner Heimat und die New Yorker Wahlheimat haben vielleicht auch die Auseinandersetzung mit dem Thema der Diptychen befeuert. Die Zwillingstürme des Kölner Doms, allen Rheinländern ein eingeschriebenes Heimatsymbol, hat er unmittelbar vor Beginn der Werkphase der „Contact Paintings“ im Jahr 1996 in einem abstrakten Gemälde unter dem Titel „Colonia Twins“ gefasst, als „Twin Towers“ waren die Türme des World Trade Centers in Manhattan jahrzehntelang ein Wahrzeichen für den Großraum New York.
Rainer Gross gibt seinen „Twins“ Familiennamen als Titel, etwa „Schmidt Twins“, oder „Elder Twins“. Er bezieht sie in einer Blindwahl aus dem New Yorker Telefonbuch. Mit diesen willkürlichen Namen entlässt er die Werke aus seiner Obhut in ein eigenes Dasein – auch hier betont er die Autonomie seiner Artefakte, die sich im Entstehungsprozess in der geschilderten Form auch gegenseitig geschaffen haben.
Anders als bei den analytischen Farbmalereipositionen, etwa von Marcia Hafif oder Joseph Marioni, die rein selbstreferenziell in erster Linie die Malerei aufgrund ihrer Parameter Art des Bildträgers, Beschaffenheit des Farbmaterials und Technik des Farbauftrags in Bezug zu Licht und Raum befragen, gelingt es Rainer Gross einen synthethischen Ansatz zur Farbmalerei zu liefern, indem er zusätzlich zur Analyse des Mediums Gemälde und des Vorgangs Malen diese assoziativ-narrativen Bedeutungsebenen evoziert.
Michael Schneider