Exhibition catalog Galerie Rother, 30 pages with an essay by Dorothee Bear-Bogenschütz

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NIMM ZWEI!

Zu den Zwillingskonstellationen in der Malerei von Rainer Gross

Muss einer nach Amerika, um gross(artig) zu malen? „Eine neue Art Malerei zu definieren, war immer schon mein Verlangen“, sagt Rainer Gross. Vor einem halben Jahrhundert verabschiedete er sich von Deutschland, wie Generationen seiner Landsleute zuvor „in der Hoffnung, in New York einen neuen Anfang zu finden“. Es gelang.

Ein Querschnitt durch die künstlerische Produktion der vergangenen zwei Jahrzehnte offenbart,
dass er dort nicht nur mit außerordentlicher Konsequenz seinem Lebensweg eine aufregende biografische Wendung gab, sondern bis heute ebenso beharrlich wie unbeirrbar sein transatlantisch ausformuliertes Malterrain beschreitet und Werkgruppen pflegt. Die „twins“ sind die spannungsreiche Konstellation, die der gebürtige Kölner in Amerika für sich fand.

Vor genau 25 Jahren entstanden die ersten Diptychen dieser Art als abstrakte All-over- Kompositionen, deren Teile in einem unerwarteten kommunikativen Zusammenhang stehen. Durchaus absichtsvoll auch als Suchspiel angelegt, gaukeln sie dem Betrachter Zwillingshaftigkeit nur vor, erweisen sich bei näherer Betrachtung jedoch als veritable Bilderpaare und - zumal jeweils ein Bild
im Zuge der Präsentation in einem Museum oder einer Privatsammlung um 180 Grad gedreht wird
-, besonders raffiniert korrespondierende Zweiteiler: Arrangements aus solitären Gegenstücken,
die ohneeinander nicht sein können und sich ergänzen wie ein Hollywood-Traumpaar. Gross erlaubt einen flüchtigen Blick in sein Innerstes: „Ich denke und fühle Entstehen und Transformation in
diesen Arbeiten. Die Bilder werden im Prozess geboren. Keines kann ohne das andere existieren. Das Auseinanderreißen der Schichten ist ein brutaler Akt.“ Auch emotional schmerzlich?

Grundsätzlich antworten zwei Einzelbilder aufeinander, die Gross zu Kontaktbildern erklärt.
Die „twins“, sie sind auch “Contact Paintings”. Zwar umfasst sein Oeuvre einige „singles“, doch beabsichtigt sind sie nicht. Ihre Existenz mag dem technischen Prozess geschuldet sein. „Ab und zu gibt es Totgeborene“, so der Maler, „eine Arbeit bleibt allein und lässt den Zwilling erahnen“.

Nicht etwa im einfachen herkömmlichen Abklatschverfahren erzielt Gross die gewünschten Resultate, sondern durch ein spezielles Verfahren, das – dem Zwillingsterminus zum Trotz – im Ergebnis jeweils

ein hundertprozentiges Original garantiert. Die Arbeiten sind abgeleitet vom Druckvorgang der Monotypie. „Das verbleibende Restimage auf dem Druckstock“ regte Gross seinerzeit an, „es auch einmal mit zwei Leinwänden zu versuchen“.
Sein eigenwilliges und unverwechselbares Produktionsverfahren entwickelte er aus (gestischer) Malerei und (physischer) Aktion. Eine Leinwand presst er auf eine zweite und übt anschließend ebenfalls manuell - unterschiedlich starken - Druck auf die jeweiligen Rückseiten aus. Zunächst hatte er auf der einen Leinwand ein ungegenständliches Bild angelegt mit reinen, in Wasser gelösten Pigmenten, für die Gestaltung der anderen dagegen Ölfarben benutzt.

Wobei die Zufallskonstellationen im zweiten Schritt des Schaffensprozesses werkimmanent und prozessbedingt sind und somit wesentlicher Teil des künstlerischen Ergebnisses. Unverändert maßgebend bleiben gleichwohl Autorschaft und das handelnde Ich: Rainer Gross. Der Künstler verantwortet Farbverlauf, -form und -intensität, legt die Grundlagen für den vergleichsweise weniger Einflüssen zugänglichen finalen (Ab-)Druckvorgang. Weil Gross Maler und keine Maschine ist und bleibt, auch während der Druckvorgänge, lässt sich das Erscheinungsbild der „twins“ prinzipiell nicht vorhersehen. Es sind mehrere Dialektiken, die den Zwillingsgemälden buchstäblich zugrunde liegen.

Das Betrachterauge wandert über die Oberflächen und dringt, während es zu erkunden sucht, ob womöglich spiegelbildliche Konstellationen oder formale Rhetorik im weitesten Sinne zum Tragen kommen, immer tiefer ein in die vermeintliche Bildstörung und den jeweiligen Bildraum. Diesen verführerischen Tiefensog erzeugt Gross nicht durch (zentral-)perspektivisches Kalkül, sondern wahrnehmungspsychologisch.

Es geht ihm um mehr als gängige Fragen nach Kopie und Original: um die Anregung eines philosophischen Diskurses über Ab- und Spiegelbild. Ihn selbst beschäftigt mitnichten exklusiv die dialogische Komponente innerhalb des jeweiligen Paarungsprozesses, vielmehr auch die Art der Ansprache des Rezipienten.
Gross‘ Werke tangieren einen Komplex von (offenen) Fragen und Begriffen, die das Zeitalter von NFTs und Reproduktionsverfahren aller Art – vom Screenshot bis hin zum 3-D-Druckverfahren - neu zur